Halle (-Nietleben), Ehem. Irren-, Heil- und Pflegeanstalt
Die Anlage wurde nach 1835 im Auftrag des Provinziallandtags und der Provinzialregierung aufgrund der Konzeption des Psychiaters und ersten Anstaltsdirektors Heinrich Damerow nach Plänen der Kgl. Ober-Bau-Deputation (Karl Friedrich Schinkel, Wilhelm Heinrich Matthias) in den Jahren 1857 errichtet und 1844 eröffnet. Die Ausarbeitung der Entwürfe lag bei den beamteten Architekten G. Spott und Fr. W. Steudener, die des Kirchenbaus (1863) bei Fr. A. Ritter. Erweiterung der Anlage und weitere Gebäude nach 1871.
Im 18. Jh. wurden Geisteskranke zusammen mit Straffälligen im Sinn staatlich reglementierter Ordnung in Zucht- und Tollhäusern, eingerichtet in bestehenden Klöstern oder Schlössern (hier: Moritzburg in Zeitz), weggeschlossen. Um 1800 werden Gefängnisse und Irrenhäuser als jeweils eigenständige Bauaufgabe errichtet (erhaltenes Beispiel: Landesirrenhaus Neuruppin, 1799). Den zunächst bevorzugten, getrennten Anstalten für heilbare und unheilbare Kranke standen ärztliche und praktische Bedenken gegenüber: auf ärztlicher Seite tiefere Einsichten in die Therapierbarkeit der Geisteskrankheiten, in praktischer Hinsicht die Vorteile einer konzentrierten Verwaltung und Betreuung in einer einheitlichen Anlage.
Alternative Vorstellungen konnte in einem neuen komplexen Anstaltssystem, der „Relativ verbundenen Heil- und Pflegeanstalt" verwirklicht werden, wie es 1831 von dem Psychiater Christian Friedrich Roller entwickelt und 1837-1842 im badischen Illenau gebaut wurde. Etwa gleichzeitig, nämlich mit Bauplänen seit 1835 und der Bauausführung bis 1844, wurde die Nietlebener Anstalt errichtet. Die Konzeption von Heinrich Damerow fußt erkennbar auf dem Leitbild Rollers. Männer- und Frauenabteilung, Heil- und Pflegeanstalt sind darin „relativ verbunden", etwas separiert die sogen. Tobenden.
„Mit Illenau und Halle gewinnt die deutsche Anstaltspsychiatrie Weltruf" (D. Jetter in seiner grundlegenden Studie „Zur Typologie des Irrenhauses in Frankreich und Deutschland, Wiesbaden 1971). Baulich verwirklicht wurde die von einer ideal-geordneten, in sich geschlossenen Welt ausgehende Vorstellung Damerows durch einen Bauplan, der dieses Konzept in die klaren und strengen Formen des Berliner Klassizismus zur Zeit Schinkels fasst. Das architektonische Leitbild dieser Gebäude ist das Römische Landhaus der Spätantike, wie es den Italienreisenden der Zeit in den anmutigen Gegenden des Südens entgegen getreten war.
Eine Generation später erwies sich dieser ideal konzipierte, in seinem symmetrischen Grundplan noch von spätbarocken Hospitalentwürfen beeindruckte System als zu starr. Die nach 1871 gebauten villenähnlichen Gebäude, die den Kern der Nietlebener Anlage umgeben, belegen einen konzeptionellen Wandel im Anstaltsbau.
Dr. Findeisen Halle, 8.7.2003