Das
Narrenschiff droht zu kentern
Die spinnen,
die Stadtplaner: Die klassizistische Irrenanstalt Halle-Nietleben
soll abgerissen werden / Von Arnold Bartetzky
Waren
das Zeiten, als man in den Nachwendejahren miterleben durfte,
wie die historischen Städte Ostdeutschlands auflebten! Gewiß,
es gab auch Fehlentwicklungen und verpaßte Chancen. Doch es
überwog das freudige Staunen über die Juwelen, die, dank der
Schwäche der DDR-Wirtschaft konserviert, nach und nach unter
jahrzehntealten Dreckschichten zum Vorschein kamen. Heute
dagegen ist in Ostdeutschland von Depression bedroht, wer an
Baudenkmälern hängt: Seitdem der Sanierungsboom abgeebbt
ist, überbieten dieselben Kommunen, die damals in behutsamer
Stadtreparatur wetteiferten, einander im Raubbau an ihrem
architektonischen Erbe. Unter dem Eindruck von
Wohnungsleerstand und rapidem Verfall der unsanierten Altbauten
wurde die Stadtschrumpfung zum neuen Leitbild erklärt. Ganze
Häuserzeilen aus der Gründerzeit werden nun, ohne mit der
Wimper zu zucken, planiert, immer unterwürfiger buhlen die
Städte um die rar gewordenen Investoren. Kaum ein Baudenkmal
ist mittlerweile vor Abriß sicher, wenn es den Plänen eines
Bauträgers im Wege steht.
Ein krasses
Beispiel für diese kommunale Ohnmacht gegenüber skrupellosen
Investoren bietet in den letzten Monaten Halle. Am
Marktplatz, trotz einiger Kriegsverluste und späterer
Bausünden eines der hinreißendsten historischen Ensembles in
Deutschland, wurde unlängst ein Gründerzeithaus bis auf die
Fassade niedergelegt, um für den Erweiterungsbau eines
Warenhauses Platz zu machen. Der Investor, die Frankonia GmbH
im Verbund mit Kaufhof, der die Platzfront bereits mit einem
erbärmlichen Erstbau verstümmelt hatte, wollte auch das
angrenzende spätklassizistische Eckgebäude mit renaissance-
und barockzeitlichem Kern einstampfen. Die bedrängte Stadt
hätte sich dem Ansinnen vermutlich nicht dauerhaft widersetzt,
nachdem sie bereits die Beseitigung des rückwärtigen Anbaus
samt Treppenhaus zugelassen hatte. Daß das Kleinod, wenn auch
als Torso, noch steht, ist wohl dem skandalösen Abriß auf dem
Nachbargrundstück zu verdanken. Bei der Freilegung der
seitlichen Flanke traten nämlich sensationellerweise romanische
Fragmente mit Türgewänden und Portalen zutage, womit dann -
zumindest vorläufig - weiteren Abrißgelüsten Einhalt geboten
werden konnte.
Wenn nicht
wieder ein Wunder geschieht, sind aber die Tage für ein
Hallenser Denkmalensemble von noch viel größerem kunst- und
kulturgeschichtlichem Wert gezählt: die einige Kilometer
nördlich des Zentrums gelegene ehemalige
Provinzial-Irrenanstalt Nietleben. Die ausgedehnte Anlage,
geschmeidig in einen romantisch verwilderten Park auf einer
sanften Erhebung über der Saale eingebettet, gehört zu den
frühesten psychiatrischen Heilanstalten Deutschlands. Ihr
Kernbezirk, ein rechteckig um einen Innenhof angeordneter,
fußballfeldgroßer Komplex aus Einzelgebäuden mit verbindenden
Arkaden und Kolonnaden, entstand in den vierziger und
fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts. Die Entwürfe
stammen von den Architekten Gustav Spott und Fr. W. E.
Steudner, das planerische Konzept hatte der angesehene Psychiater
und erste Anstaltsdirektor Heinrich Damerow erarbeitet.
Die zwei- bis
dreigeschossigen Putzbauten atmen in ihrer strengen Eleganz
trotz des maroden Zustands noch die edle Einfalt und stille
Größe des Spätklassizismus. Die palastartige Anmutung des
symmetrisch organisierten Gesamtensembles aber läßt an
barocke Schloßanlagen oder, mehr noch, an Idealstadtentwürfe
der Renaissance denken. Tatsächlich war die Anstalt als eine
Art Idealstadt, ein wohlgeordneter Laborapparat des
medizinischen Fortschritts, konzipiert worden. Aus dem Geist
einer neuen Humanität geboren, sollte sie den Geisteskranken,
die man nicht mehr als Verbrecher, sondern als Patienten
behandelte, ein menschenwürdiges Domizil und optimale
Therapiebedingungen bieten. Noch wenige Jahrzehnte zuvor hatte
man die Irren von Halle zusammen mit Kriminellen in einem
Zuchthaus eingesperrt. Nach Verlegung der Straftäter im Jahr
1816 wurde das einstige Gefängnis zum Königlichen
Irreninstitut", in dem die Insassen wie Sardinen in der
Büchse zusammengepfercht waren. Heinrich Damerow geißelte diese
Zustände und erwirkte schließlich bei der preußischen
Regierung die Zustimmung zum Bau einer Provinzial-Irrenanstalt.
Die
Humanisierung der Irrenfürsorge änderte allerdings nichts an
der gesellschaftlichen Ausgrenzung der seelischen Abweichler.
Im Gegenteil: In demselben Maße, in dem die Erkenntnis wuchs,
daß es oftmals nur ein kleiner Schritt von der
gesellschaftlichen zur pathologischen Entfremdung ist, stiegen
die Berührungsängste. Die abgeschiedene Lage der Anstalt
sorgte jedenfalls dafür, daß die Gesellschaft der Normalen
unten in der Stadt vom Treiben der Entrückten auf dem Hügel
unbehelligt blieb.
Für manchen
Insassen mag dieser Zauberberg eine Insel der Seligen gewesen
sein, andere dürften die Zwangsidylle als GULag empfunden haben.
Heute jedenfalls wirkt die Anlage wie ein erlesener Kurort oder
eine mustergültige Residenz für betreutes Wohnen. Die späteren
Bauten, in lockerer Anordnung in die Parklandschaft rund um
den Kernbezirk eingestreut, steigern den einzigartigen Reiz des
Ensembles. Bereits 1864 wurde die anmutige, aus Backstein
errichtete Anstaltskirche geweiht. In der Raumauffassung noch
spätklassizistisch, im Detail den Rundbogenstil aufgreifend,
erscheint sie als eine kleine Schwester von Stülers
Matthäikirche in Berlin. Seit den siebziger Jahren des
neunzehnten Jahrhunderts wurden Erweiterungen der Anstalt
notwendig, denn der Modernisierungsschub der Gründerjahre
zeitigte Scharen psychisch Kranker, die in Nietleben
unterzubringen waren. Zunächst entstanden villenartige
Patientenhäuser, später kamen Aufnahmestationen, ein
Verwahrungshaus für unbotmäßige Kranke, eine neue Villa für
den Direktor und mehrere Häuser für das Anstaltspersonal
hinzu.
Mit ihrer
achtzigjährigen Baugeschichte ist die Anstalt eine wahre
Enzyklopädie der Architekturstile des neunzehnten und frühen
zwanzigsten Jahrhunderts - vom Klassizismus über Varianten des
gründerzeitlichen Historismus bis hin zum englischen
Landhausstil und zum Art deco der zwanziger Jahre. In Nietleben
wurde jedoch nicht nur Architekturgeschichte, sondern vor
allem Medizingeschichte geschrieben - nachzulesen in einem
Aufsatz von Heiko Worlitschek und Josef N. Neumann (Hallesche
Blätter, im Druck). Anstaltsgründer Damerow gehörte zu den
bedeutendsten Psychiatern der Zeit. Sein Nachfolger Moritz
Koeppe verhalf in Deutschland der damals neuen Therapie
ohne mechanischen Zwang" zum Durchbruch. In den zwanziger
Jahren wurden in der Anstalt über tausend Patienten betreut.
Das Ende kam mit den Nazis, die für Geisteskranke alles andere
als eine Therapie ohne mechanischen Zwang im Sinne hatten.
Bereits 1935 wurde die Heilanstalt liquidiert, die meisten
Patienten fanden später in den Vernichtungsanstalten des
NS-Staats den Tod. Die Gebäude wurden einer in der Nähe
errichteten, gigantischen Kaserne der Wehrmacht einverleibt.
Nach Kriegsende
nahm die Rote Armee das Areal in Besitz und verblieb dort bis
Anfang der neunziger Jahre. Sie hinterließ die Anlage in einem
verwahrlosten, aber baulich erstaunlich intakten Zustand.
Selbst für die Kirche hatten die Rotarmisten eine Verwendung
gefunden, indem sie sie als Turnhalle mißbrauchten. Noch heute
zieren naive Bildtafeln mit Sporttreibenden den angrenzenden
Festsaal. Hie und da erinnern auf dem Gelände auch
Sowjetsterne und Graffiti in kyrillischer Schrift an die
früheren Nutzer.
Die mutwillige
Zerstörung der Irrenanstalt begann erst nach dem Abzug der
Soldaten, veranlaßt von bundesdeutschen Behörden: Der
Mittelbau im Hof des klassizistischen Kernkomplexes und einige
Seitentrakte wurden abgerissen. Der Leerstand beschleunigte den
Verfall der übrigen Gebäude. Nicht ausreichend gesichert,
wurden sie dem Vandalismus preisgegeben. So bietet sich die
Irrenanstalt heute als Geisterstadt dar. Trotz der Teilabrisse
sind aber die architektonische Konzeption und der ursprüngliche
funktionale Zusammenhang noch gut zu erkennen. Mit etwas gutem
Willen ließen sich die Bauten retten - Ostdeutschlands
Stadtplaner wissen dies aus den Erfahrungen des letzten
Jahrzehnts, in dem viele Baudenkmäler in weitaus schlechterem
Zustand gerettet wurden.
Doch dieser
gute Wille ist der Stadt Halle abhanden gekommen. Unfaßbar,
aber wahr: Die Ausschüsse für Planung und Wirtschaft haben sich
kürzlich nach langem Ringen mehrheitlich für den Abriß des
gesamten klassizistischen Kernkomplexes ausgesprochen. An
seiner Stelle soll ein neues Technologie- und
Gründerzentrum" entstehen. Dessen Direktor hat sage und
schreibe ein halbes Dutzend Ausweichflächen abgelehnt, zum Teil
mit nebulösen Argumenten, die nicht nur die Denkmalpfleger
skeptisch stimmten. Trotzdem will die Stadtverwaltung nun
seinem Drängen nachgeben, aus Furcht, für das Gelände keinen
anderen Investor zu finden.
Die
naheliegende Idee, das Idyll in traumhafter Lage als idealen
Standort für das so begehrte innenstadtnahe Wohnen im Grünen zu
vermarkten, hat kaum Chancen auf Realisierung. Denn das
Gelände ist Teil eines mit Fördergeldern errichteten
Wissenschafts- und Innovationsparks". Im Falle einer
Änderung des Nutzungskonzepts, so argumentiert die Stadt,
müßten die in Anspruch genommenen, zweckgebundenen Mittel
zurückgezahlt werden.
Gegen die
Abrißpläne hatte sich eine Front aus Kommunalpolitikern,
Bürgerinitiativen, Journalisten, Architekten, Stadtplanern
und Denkmalpflegern formiert. Selbst Halles ehemaliger
Baudezernent Friedrich Busmann, sonst nicht gerade zimperlich im
Umgang mit Baudenkmälern, spricht sich vehement gegen den
Kahlschlag aus. Die Abrißgegner verweisen nicht nur auf den
singulären städtebaulichen, architektur- und
medizinhistorischen Rang des Ensembles. Mit den Sachzwängen
der Kommunalpolitik vertraut, haben sie auch mehrere alternative
Nutzungskonzepte im Rahmen des Wissenschaftsparks entwickelt,
etwa als Zweigstelle der Universitätsbibliothek, als
Studentenwohnheim oder auch Domizil für medizinische
Einrichtungen. Doch sie scheinen kein Gehör zu finden: Die
Spitze der Kulturstadt Halle scheint fest entschlossen, im
Namen kurzsichtiger Interessen ihren langfristig gewichtigsten
Standortvorteil zu verspielen: ein architektonisch
unverwechselbares Stadtbild, das in seinem Facettenreichtum
deutschlandweit seinesgleichen sucht. Denn es steht außer.
Zweifel, daß der Abriß einen Dammbruch bedeuten würde. Die
Planierung der verbleibenden, aus ihrem Zusammenhang
gerissenen Anstaltsbauten samt der Kirche und der
Direktorenvilla wäre nur eine Frage der Zeit. Und wie könnte
man Investoren noch zum aufwendigen Erhalt der schönen
Bürgerhäuser in der Altstadt bewegen, nachdem man das
grandiose Irrenschloß von Nietleben geopfert hat?
Die letzte Hoffnung ruht nun auf dem Stadtrat, der an diesem Mittwoch entscheiden wird. Vielleicht wird sich die Mehrheit in letzter Sekunde darauf besinnen, welcher Schatz durch den Abriß vergeudet und welcher Imageschaden - welche Schande - der Stadt damit zugefügt würde.
Abrißreif?
Ein klassizistisches Schloß, vor allem aber eine wohlgebaute
Stadt in der
Stadt war einst Halles Irrenanstalt. Foto Bartetzky