Ehemalige Königlich-Preußische Provinzial-Irrenanstalt Nietleben

Heinrich-Damerow-Str. 2

1844-1857

Gustav Spott, Friedrich Wilhelm Ernst Steudener, Friedrich August Ritter




Die 1844 nahe dem Dorf Nietleben eröffnete Anstalt, entworfen von Spott und nach Plänen Steudeners bis 1857 erweitert, entstand nach französischen und süddeutschen Vorbildern und Vorgaben von Heinrich Damerow (1798-1866), des ersten Anstaltsdirektors, eines führenden Psychiaters seiner Zeit. Sie gilt als eine der ersten modernen psychiatrischen Anstalten Deutschlands und betreute um die Jahrhundertmitte etwa 300 Kranke. Neu war die Vereinigung von Heil-und Pflegeeinrichtung nach dem Prinzip der „relativ verbundenen Anstalt", die die bis dahin übliche Unterbringung der Unheilbaren in speziellen Anstalten überwand, im Unterschied jedoch zur „absolut verbundenen" Anstaltsform die räumliche Trennung von heilbaren und unheilbaren Patienten in getrennten Abteilungen beibehielt. Neben der Musteranstalt Illenau (Baden) und derjenigen im nassauischen Eichberg war Nietleben eine der ersten Einrichtungen dieser Art.

Typisch für die Baugestalt sind die Teilung in Heilanstalt (östlicher Teil) und Pflegeanstalt (westlicher Teil), in Männer-und Frauenabteilung sowie separate Unterbringung nach Schweregrad des Krankheitsbildes. Die quer­rechteckige Anlage besteht aus vier winkelförmigen Trakten, von denen je zwei der Heil- bzw. der Pfle­geanstalt zugewiesen sind. In der Hofmitte stand das Wirtschaftsgebäude mit zentraler Küche, Bade-und Kesselhaus. Die Isolierhäuser für Tobsüchtige waren als Annexe den Flügeln der Pflegeanstalt rückwärtig angefügt. Alle Gebäude waren durch „Communicationen", Arkaden und Kolonnaden, verbunden, durch die die Kranken der einzelnen Abteilungen zu Essensausgabe und Bad im Wirt­schaftgebäude gelangten, ohne sich zu begegnen. Rigide Funktionstrennung dieser Art sicherte einen ruhigen Betrieb bei optimaler Kontrolle aller Anstalts­teile durch die leitenden Ärzte. Die beiden Hauptge­bäude der Heil- und Pflegeanstalt mit Wohnungen für Direktor und Ärzte stehen in der Mittelachse zwischen südlichem Männer- und nördlichem Frauenflügel. Alle Krankenzimmer haben Ausblick in die Landschaft durch große Fenster, deren Gier als Ziersprossen gestaltet sind, um Gefängnisatmosphäre zu vermeiden. Die Korridore liegen hofseitig. In den
Abteilungen erfolgte die Raumaufteilung nach „Ruhi­gen" und „Unruhigen" sowie nach Standeszugehörig­keit. Sonderräume waren „Siechen" und „Verthierten" zugedacht. Die Putzbauten sind in spartanischen klassizistischen Formen gehalten.

In ihrer schemati­
schen Strenge ist die Anlage der Architekturiehre Durands verpflichtet. Flach geneigte, überstehende Dächer erinnern an italienische Landhäuser und sind das einzig gefällige Element. Die 1864 nach Ritters Entwurf zwischen den Isolierhäusem errichtete An-staltskirche ist ein schlichter Backsteinbau im Rund­bogenstil mit schlankem oktogonalen Westturm. Nordöstlich entstanden 1887-94 freistehende „Villen" im gefälligen „Schweizerhausstil. Die Einführung des Pavillonsystems läßt bei Vermeidung von Korridoren das Vordringen offener Therapieformen erkennen, wie sie auch beim Neubau der psychiatri­schen Universitätsklinik (Nr. 127) zur Geltung kamen. Zahlreiche später entstandene Nebengebäude gaben der Anstalt schließlich den Charakter einer Gartenstadt. Sie wurde 1935 geschlossen und der benachbarten Kaserne zugeschlagen. Wichtige Teile der medizingeschichtlich bedeutenden Architektur, so die Isolierhäuser, das Wirtschaftsgebäude und Teile der „Communicationen", wurden Anfang der 1990er Jahre leider abgerissen. Der Komplex ist gegenwärtig ohne Nutzung.