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Nahe der Leipziger Straße

P. Breitkopf



Kl. Märkerstr. 5
(Aufn.: P. Breitkopf)





Kleine Märkerstraße 5/6
(Aufn.: P. Breitkopf)






Kl. Märkerstr. 5,
Gewölbe der Raffinerie
(Aufn.: C. Feigl)



Toreinfahrt zur Kl. Märkerstr. 5
(Aufn.: C. Feigl)



Kaffeereinigungs-
maschinengebäude






Seit etwa zehn Jahren ungenutzt, verschlechtert sich der Bauzustand einer Häusergruppe an der Ecke Kleine Märkerstraße/Kleine Brauhausstraße zusehend. In das Eckhaus dringt Regenwasser durch zwei offene Dachfenster. Drei Flächen fehlender Dachziegel auf dem benachbarten Lagerhaus deuten auf durchgebrochene Geschoßdecken im Inneren. Falls keine Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden, bricht der Mansard-Dachstuhl in Kürze in sich zusammen.

Das älteste Gebäude der Gruppe ist das Eckhaus Kleine Märkerstraße 5. Vermutlich kann man eine Angabe im Hauptbuch der Unpflichten auf das existierende Gebäude beziehen. Dort ist eine sechsjährige Steuerbefreiung ab 1702 »neu auffbauens halber« eingetragen. Außer der Baugestalt und den mindestens so alten tonnengewölbten Kellern deutet allerdings nichts auf diese Erbauungszeit hin. Vielleicht haben sich über den Holzverschalungen der Gründerzeit noch Reste barocker Stuckdecken erhalten.

Initiator des Neubaus von 1702 war Siegesmund Dreßler »eines Bürgers Sohn« (Bürgerbuch 1656), dem das Grundstück seit 1673 gehörte. Ihm folgte 1727 als Eigentümer Gottfried John, Mathematiklehrer am Pädagogium der Franckeschen Stiftungen. Einige Jahre später übernahm Theodor Christoph Ursinus das Grundstück. Er war seit 1732 Professor der Philosophie an der Universität und erwarb 1746 auch den Doktorgrad der medizinischen Fakultät. Allerdings starb er bereits 1748 im Alter von 46 Jahren. Auf seine Witwe folgten zwei weitere Besitzer, bevor 1834 mit dem Kauf durch Friedrich Hensel ein neuer Abschnitt in der Geschichte des Grundstücks begann.

Seilermeister Friedrich Hensel hatte 1820 im Haus Leipziger Straße 97 (heute eram, vorher Blumen-Stemmler) ein Geschäft für Seilerwaren eröffnet. Um sein Geschäftsangebot, das vermutlich von Garnen bis zu Schiffstauen reichte, auch selbst herstellen zu können, kaufte er das jenseits der Ulrichskirche gelegene Grundstück Kleine Märkerstraße 5/6 und reichte noch im selben Jahr 1834 einen Bauantrag ein. Er beantragte, auf dem Grundstück – jedoch neben dem vorhandenen Eckhaus – an der Straße »ein neues Niederlagsgebäude mit Raffinerie und Spinnbahnen« zu erbauen. Das Gebäude sollte »unten massiv und resp. überwölbt, oben von Holzfachwerk …« sein. Die Bauzeichnung zeigt ein Gebäude mit Mansarddach, dessen Grundrißbegrenzung im Vergleich zum Vorgängerbau begradigt und geringfügig von der Grundstücksgrenze zurückversetzt wurde. (Interessant ist der sehr konservative Architekturgeschmack des Bauherrn, der sich in der Verwendung eines Mansarddachs widerspiegelt. Zumindest dem Autor war diese Bauform bisher nur aus dem 17. und 18. Jahrhundert bekannt – siehe Hallesche Blätter, Sonderheft Juli 2000, Marktplatz 23).

Falsch ist die mehrfach in der Literatur geäußerte Vermutung, daß es sich bei dem kreuzgratgewölbten Raum im Erdgeschoß des Gebäudes um einen Rest des gotischen Servitenklosters handeln könnte. Dieser beeindruckende quadratische Raum besitzt eine Grundfläche von etwa 36 m2 und eine Scheitelhöhe von mindestens 4 Metern. Er wurde eingerichtet, um eine Ölraffinerie aufzunehmen, diente also der Reinigung des damals für die Wohnungsbeleuchtung genutzten Rüböls. Zweifellos sollte das Kreuzgewölbe die Feuergefahr vom Fachwerkobergeschoß abwenden. Weitere Räume im Erdgeschoß dienten der Warenlagerung bzw. als Wagenremise. Im Obergeschoß, den »Spinnbahnen«, wurden die Seilerwaren hergestellt.

Erst in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts verlegte Friedrich Hensel sein Geschäft von der Leipziger Straße in die Kleine Märkerstraße. Außer Seilerwaren verkaufte er hier zusammen mit seinem Schwiegersohn Theodor Haenert auch »Materialwaren und Landesprodukte«. Diese heute unüblichen Bezeichnungen umfaßten eine breite Warenpalette, darunter Töpfe, Pfannen, Schießpulver, Sämereien, ausländische Fische und anderes. Eine nicht unübliche Kombination: Laut Adreßbuch betrieben z.B. im Jahre 1864 (mindestens) 5 der insgesamt 41 Seilermeister auch Materialwarenhandel und Ölraffinerie.

In den 70er Jahren wurde die Firma Fr. Hensel & Haenert von Einzel- auf Großhandel umgestellt. Der Tod des Firmengründers brachte schließlich auch das Ende der Seilherstellung. Mit dessen Enkel Carl Haenert übernahm 1881 ein Mann mit – laut Zeitungswerbung – »kaufmännischen Erfahrungen im Ausland und an den Seeplätzen« die Leitung der Firma. Das Geschäftsfeld des Großhandelsunternehmens umfaßte nun den Handel mit »Kolonialwaren«. Hierzu gehörte auch die Einfuhr von Rohkaffee aus Usambara (in Deutsch-Ostafrika, heute Tansania), den man ab 1890 in der eigenen Kaffeerösterei weiterverarbeitete.

Der veränderten Firmentätigkeit aber auch der Repräsentation dienten umfangreiche Bauarbeiten, die Carl Haenert innerhalb von zehn Jahren durchführen ließ: 1889 reichte Haenert zunächst einen eigenen Entwurf zur Fassadenumgestaltung seines Wohn- und Geschäftshauses Kleine Märkerstraße 5 bei der Baupolizei ein. Die darin vorgesehene, überladene Giebelarchitektur wurde zurückgewiesen. Nun beauftragte Haenert den Maurermeister Eduard Steinhauf mit dem Entwurf, der in den folgenden Jahren sämtliche Neu- und Umbauten (außer einem Hofgebäude) betreute. Dazu gehörten 1890 ein neues Bürogebäude auf dem Nachbargrundstück Kleine Brauhausstraße 25 und, in den Jahren 1895/96, auf dem Grundstück Nr. 24 ein Gebäude mit Büroräumen in der ersten Raumachse und anschließendem haushohem Raum als Kaffeerösterei. Parallel dazu entstanden bis 1899 im Hof weitere Bauten (siehe Skizze). Am Ende des Jahrhunderts wurden auch Haenerts Wohnräume im Erdgeschoß des Eckhauses durch Anbringen von Holzdecken und Wandpaneelen in Geschäftsräume wie »Musterzimmer« und »Konferenzzimmer« umgewandelt.

Die neuerrichteten Hofgebäude dienten vor allem der Verarbeitung des Kaffees, zum Teil aber auch der Lagerung anderer »Kolonialwaren«. Trotzdem warb man noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der eigenen »Rüböl-Raffinerie«.

Mit dem Ausscheiden von Carl Haenert 1911 wurde die Firma in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Deren weitere Geschicke bestimmte in den folgenden Jahrzehnten vor allem der Kaufmann Karl Jühling. Im Ersten Weltkrieg war er auch im Stadternährungsamt tätig und u. a. für die Verteilung der auf dem Firmengrundstück zwangsweise gelagerten Lebensmittelreserve zuständig. (Sein früheres Wohnhaus in Dölau nutzt die evangelische Kirche seit etwa zehn Jahren für ihre Jugendarbeit.)

Die Firma Fr. Hensel & Haenert existierte als Lebensmittel-Großhandlung in der Form einer Kommanditgesellschaft noch bis Anfang 1981. Jedoch hatte schon spätestens in den 60er Jahren der staatliche Lebensmittel-Großhandel im Haus Kleine Brauhausstraße 25 seine Arbeit begonnen. Nach Übernahme der anderen Gebäude richtete er in diesem Bürohaus 1981/82 eine Imbißversorgung ein und ließ allen Putzfassaden einen neuen Anstrich geben. Hierbei verschwand vermutlich auch eine Gedenktafel, die an die Gründung der Firma Fr. Hensel & Haenert erinnerte.

Der im Herbst vorigen Jahres vom heutigen Inhaber eingereichte Abrißantrag für sämtliche Gebäude wurde abgelehnt. Der Eigentümer hat dagegen beim Regierungspräsidium Widerspruch eingelegt, über den noch nicht entschieden wurde. Außerdem drohte er mit einer Klage gegen die Ablehnung des Gebäudeabbruchs. Einer Verfügung zur Sicherung der Gebäude ist er trotz Zwangsgeldandrohung nicht nachgekommen. Die Halleschen Blätter werden weiter berichten.


Quellen:

Hauptbuch der gewöhnlichen Unpflichten, Grund- und Lagerbuch von 1744, Grundbücher 1750 bis 1890, Bürgerbuch 1400 bis 1830, Adreßbücher, Bauakten, Häuserarchiv im Stadtarchiv

Dreyhaupt, Joh. Chr., Pagus Neletici ... 1750

Grundstücke der Firma Fr.Hensel & Haenert mit Nutzung 1895/1916 (Skizze unmaßstäblich)