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Am Grashof

P. Breitkopf
 


Lageplan der Grundstücke Graseweg 1-3 und Gr. Klausstraße 2/3











Gr. Klausstr. 2 (links) u. 3 um 1900
(Aufn.: Stadtarchiv)


Gr. Klausstr. 3: Giebel
(Aufn.: P. Breitkopf)






































































Graseweg 1 in den 80er Jahren
(Aufn.: Stadtarchiv)







Graseweg 1 - Renaissancefenster am westl. Teil des Massivbaus
(Aufn.: P. Beitkopf)



Graseweg 1 - Barockfenster am östl. Teil des Massivbaus
(Aufn.: P. Beitkopf)



































Wenn man vom Marktplatz aus die Große Klausstraße betritt, fällt der Blick auf das leerstehende Eckhaus Nr. 3, in dem sich bis vor sechs Jahren das Café »Die Insel« befand. Hinter der Tordurchfahrt beginnt ein umbauter Hof, der rechtlich zum Nebengrundstück Nr. 2 gehört und über dessen »Sanierung« in Heft 17 der Halleschen Blätter berichtet wurde. Die Hofbebauung erstreckt sich auch hinter dem Grundstück Graseweg 1, dessen Gebäude sich an das Eckhaus anschließen. Die Geschichte beider Grundstücke verlief – nachweisbar seit dem 16. Jahrhundert – unabhängig voneinander. Sie soll deshalb auch getrennt und nacheinander betrachtet werden.

Große Klausstraße 3

Der dreigeschossige Fachwerkbau verdankt sein »malerisches« Aussehen einem – die Ecke betonenden – zweigeschossigen, fünfseitigen Erker und einem Krüppelwalmdach, das auch diesen Erker überspannt. Da sich in den Grundstücksakten kein Erbauungsdatum nachweisen läßt, kann nur anhand von Vergleichsobjekten eine zeitliche Einordnung des Gebäudes versucht werden.
Polygonale Erker sind in Halle eher ungewöhnlich. Allein am 1882 abgerissenen Talamt befanden sich zwei mehrseitige Erker, die man Umbauten der zweiten Hälfte des 16. bzw. ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zuordnen kann. Außerhalb Halles besitzen die Rathäuser mehrerer Fachwerk-Städte polygonale Erker (ältestes Beispiel Wernigerode, 1494/98); Bürgerhäuser des 16. und der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts (z.B. in Miltenberg) schmücken sich damit. Noch vom Ende des 17. Jahrhundert gibt es Beispiele für diese Bauform (Quedlinburg) – danach erst wieder in der Gründerzeit. Im Übrigen drängt sich die Ähnlichkeit zu den Treppentürmen der Renaissance (z.B. »Marktschlößchen«, Jenasches Stift in Halle) geradezu auf. Außerdem stützt sich die Vorkragung des Dachstuhls auf Knaggen, die denen der umliegenden Renaissance-Häuser ähneln. Das Krüppelwalmdach ist allerdings eine typische Bauform des 18. Jahrhunderts.
Über das Zustandekommen der Baugestalt dieses Hauses kann man nur Vermutungen anstellen: Bei einer »Modernisierung« des älteren Hauses könnte im 18. Jahrhundert ein ursprünglich vorhandener Spitz-Giebel (wie z.B. bei Kleinschmieden 4) abgewalmt und der Erker in den Dachstuhl einbezogen worden sein.

Die Geschichte des bestehenden Gebäudes führt also vermutlich in die Renaissance-Zeit zurück und hier findet sich auch die Ersterwähnung in den städtischen Grundeigentümer-Akten. Im Jahre 1616 wurde ein vorhandenes Grundstück (heute Große Klausstraße 2 und 3) durch »Abtrennung« eines Wirtshauses geteilt. Auf die Wirtsleute folgen ab 1647 bis ins 19. Jahrhundert Handwerker als Eigentümer des abgetrennten Grundstücks. Soweit nachweisbar, sind außer einem Gürtler und einem Posamentierer (Hersteller von Bändern, Schnüren u.ä. für Kleidungsstücke) immerhin drei Goldschmiede hier nacheinander tätig. Dabei zählt der erste Goldschmied in dieser Reihe zu den bedeutendsten seiner Zeit in Halle:
Christian Knittel war Besitzer des Grundstücks ab 1647 bis zu seinem Tod 1672. Er schuf hier 1654/55 für die Ulrichskirche einen emaillierten goldenen Weinkelch, der von dem Kunsthistoriker Max Sauerlandt als »kostbarstes Stück hallischer Goldschmiedekunst« bezeichnet wurde.
Profanerem Gewerbe gehen die Hausbesitzer im 19. Jahrhundert nach. Auf zwei Fleischermeister folgen mehrere Kleider- bzw. Tuchhändler. 1867 kauft Ludwig Buhle das Grundstück und läßt in den Folgejahren die Schaufenster im Erdgeschoß auf die heutige Größe erweitern. Die Manufakturwarenhandlung C. M. Buhle (Manufakturwaren = Kleiderstoffe, Textilien) besteht unter verschiedenen Besitzern bis zum Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Spätestens 1933 erwirbt der Lederhändler Heinrich Pfafferott das Haus. Er und sein Sohn sind mit ihrem Sortiment »Schuhmacherbedarfsartikel, Lederwaren, Sattlereibedarfsartikel« noch im Adreßbuch von 1950 nachweisbar.

Die Hofbebauung gehört möglicherweise seit der Grundstücksteilung 1616 zum Nachbargrundstück Große Klausstraße 2. Der viergeschossige Massivbau an der Straße ist das Ergebnis eines Umbaus im Jahre 1852. Bis dahin hatte das Gebäude, von dem nur Erdgeschoßmauern weiterverwendet wurden, ähnliche Geschoßhöhen wie das Haus Nr. 3. Seit 1834 betrieben nacheinander die Firmen Theune & Brauer bzw. Gebrüder Mulertt in den Gebäuden Große Klausstraße 1 und 2 einen Großhandel mit »Colonialwaren« und Weinen sowie einen entsprechenden Einzelhandel und eine Weinstube. Die Obergeschosse der Häuser und die Hofbebauung dienten vor allem Lagerzwecken. Die Bauzeit der Hofgebäude läßt sich anhand der Bauakte nicht ermitteln.

Vermutlich 1913 zieht Franz Adam mit seiner 1889 gegründeten Glaserei aus der Rathausstraße hier ein. Er beschäftigt sich vor allem mit dem Schaufenster-Bau, erst sein Sohn Franz spezialisiert sich in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts auf das Einrahmen und den Verkauf von Bildern. Zu diesem Zweck nutzen er, sein Nachfolger Helmut Adam und auch der heutige Besitzer der Glaserei Werkstatträume auf jenem Hof, der durch das Tor im Haus Große Klausstraße 3 zu erreichen ist.

Graseweg 1

Die Geschichte des Grundstücks Graseweg 1 läßt sich zum Teil bis in das Mittelalter zurückverfolgen. Es kann nachgewiesen werden, daß der östlichste Teil des Grundstücks – dem Haus Große Klausstraße 3 benachbart – Standort der Mathiaskapelle und damit Teil des sagenumwobenen Grashofes war.
Das heutige Bild des Grundstücks bestimmen ein langgestreckter zweigeschossiger Massivbau und ein dreigeschossiger Fachwerkbau mit teilweise gemauerter Fassade. Der Fachwerkbau besitzt zwar eine Eingangstür, jedoch kein eigenes Treppenhaus und wurde somit vermutlich als Anbau des Massivbaus errichtet. Das Gebäude dürfte wegen der Ziegelausmauerung des Fachwerks höchstens zweihundert Jahre alt sein, allerdings wurde es über einem vermutlich älteren tonnengewölbten Keller erbaut.

Genauere Angaben lassen sich zu dem zweigeschossigen Massivbau machen. Bei Betrachtung der Fassade erkennt man die unterschiedlichen Fenstergewände an beiden Haushälften. Das Stabwerk an den Obergeschoßfenstern des westlichen Hausteils deutet – obwohl grundsätzlich schon in der Gotik verwendet – auf die bürgerliche Renaissance zwischen etwa 1550 und 1618 hin. Die in dieser Zeit in Halle entstandenen Bürgerhäuser zeigen oft dieses Baumotiv. Im Innern dieses Hausteils findet sich zudem im Erdgeschoß über einem tonnengewölbten Keller ein für die Renaissance typischer Unterzug mit Schiffskehlen, der das Obergeschoß trägt. Eine weitere Eingrenzung der Bauzeit anhand von schriftlichen Überlieferungen ist nicht möglich.
In die Barockzeit weisen die Fenstergewände des östlichen Hausteils. Beide Gebäudehälften besitzen ein einheitliches Traufgesims und gleichhohe Dachstühle. Naheliegend wäre es deshalb, eine Entstehung beider Gebäudeteile in der Renaissance und einen Umbau im 18. Jahrhundert anzunehmen. Tatsächlich haben aber beide Gebäudeteile bis 1825 eine getrennte Entwicklung durchlaufen, ablesbar an der Folge unterschiedlicher Hausbesitzer.

Johann Christoph Dreyhaupt schreibt in seiner Chronik unter der Überschrift Capelle S. Mathiä und der zehen tausend Ritter: »Von dieser Capelle ist nichts weiter bekannt, als dass sie in derer Herren von Graßhoff Wohnhofe oder Rittersitze am Grasewege gestanden, und von denenselben erbauet und gestifftet worden … Zur Zeit der Reformation aber ist sie … eingegangen und von E.E.Rath der Stadt Halle in eine Garküche verwandelt worden, bis selbige in diesem Seculo an den nunmehr verstorbenen Stadt-Chirurgum Harnisch verkaufft worden, der sie niedergerissen und ein bürgerliches Wohnhaus an die Stäte erbauet.« Dieser Vorgang findet sich im Lehenbuch und im Hauptbuch der gewöhnlichen Unpflichten (1665 – 1734) – datiert auf das Jahr 1719. Erst nach 1744 erhält der Neubau eine Hausnummer (Nicolaiviertel 595), unter der im Grundbuch bis 1754 dann auch Johann Nikolaus Harnisch verzeichnet ist. Anhand dieser Hausnummer kann man diesen Neubau mit dem östlichen Hausteil des heutigen Grundstücks Graseweg 1 identifizieren.

Die Gleichsetzung der genannten Garküche mit der Mathiaskapelle findet sich allerdings nur in Dreyhaupts Chronik. In Olearius’ Halygraphia (erschienen 1679) heißt es summarisch nur: »Im Jahre 1509 … sind etliche Häuser in der grossen Clauß-Strassen ausgekaufft und die Garküchen dahin gebauet worden…«

Wie schon mehrfach beschrieben, bezeichnete ein »Grashof« im Mittelalter einen aufgegebenen Friedhof. Vertreter der Adelsfamilie »vom Grashof« werden zwischen 1243 und etwa 1370 in Quellentexten erwähnt. Die Mathiaskapelle erscheint erstmals in einer Urkunde des Jahres 1310 als ein bestehendes Gebäude auf dem Hofe des Ritters Busso vom Grashof.

Offen bleibt die Frage nach der Ausdehnung des Adelssitzes. Da der Graseweg erst 1576 erstmals erwähnt wird (zitiert nach Schultze-Galléra) – im Gegensatz zur nördlich parallel verlaufenden (Großen) Klausstraße (um 1300) und zum südlich gelegenen Gasthof Schwarzer Bär (1453, Namensgeber für die Bärgasse) – wäre eine Straßenführung über den ehemaligen Adelshof im späten Mittelalter denkbar. Die Kapelle hätte dann ursprünglich unmittelbar links am Eingang zum Grashof gestanden.
Im Übrigen konnte bei den Notgrabungen der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts (nach vorausgegangenen Flächenabrissen) ein quer zum östlichen Graseweg verlaufendes Graben-Wall-System mit Blendmauer ermittelt werden, das schon der Archäologe Maurizio Paul dem Grashof zuordnete.

Lückenlose Eigentümerfolgen seit 1719 bzw. 1665 können für beide damals getrennten Grundstücke zusammengestellt werden; die Berufe der Eigentümer finden sich im Bürgerbuch allerdings nur zum Teil. Hans Caspar Grillmeyer, 1665 Eigentümer des westlichen Hausteils, hat als aus Eger (Cheb) zugewanderter Kürschner 1656 den Bürgereid geleistet. Im 18. Jahrhundert sind nacheinander eine »Bürgers Tochter« und die Tochter eines Kürschners Hauseigentümer. Es folgt ein »Polizey Reuter« (Reiter). Nach der 1825 erfolgten Vereinigung beider Grundstücke kommt es zu mehreren Eigentümerwechseln, bevor 1845 der Konditor Friedrich August Schmidt das Grundstück erwirbt. Die lange Konditorei-Tradition der Familie Schmidt wird 1871 für einige Jahre durch Franz Keil fortgesetzt, der hier als Mieter dem gleichen Beruf nachgeht. Wie stark das Grundstück Ende des 19. Jahrhunderts gewerblich genutzt wird, zeigen neben den Eintragungen in den Adreßbüchern auch Beschwerden an die Baupolizei. So arbeitet im Obergeschoß ein »Barbierherr«. Das Kellergewölbe im Renaissance-Teil des Gebäudes nutzt um 1884 ein Flaschenbierhändler. Grund einer Anzeige der Polizei ist in diesem Fall die Ersetzung eines Rolltors vor dem Keller durch »nach außen aufschlagende Klapptüren«.

Die Bauakte verzeichnet für den Zeitraum 1841 bis 1950 keine wesentlichen Umbauten der Gebäude. Schaufensterein- und Umbauten, Schornsteinneubauten und Änderungen an der Hausentwässerung finden sich hier, aber auch der Backofeneinbau für »Bäckermeister« Schmidt 1845 und die Einrichtung eines Schlachthauses und einer Räucherkammer 1929. Gustav Michel, als Lebens- und Colonialwarenhändler im Adressbuch von 1930 verzeichnet, stellt offenbar im Haus selbst auch Wurst her. Als Nachfolger nutzt noch 1950 Otto Weiße mit einem »Ein- und Verkaufsgeschäft« das Erdgeschoß.

In den 80er Jahren sind die Ladenräume ungenutzt. Erst Anfang 1993 zieht mit einem Reisebüro wieder eine gewerbliche Nutzung ein. Im Obergeschoß existiert in den 90er Jahren eine Pension, deren Besitzer allerdings im Jahre 1999 gewaltsam zu Tode kommt. Seitdem steht das Gebäude mit seinem Anbau leer. In den Dachrinnen wachsen Bäume und vor dem Fachwerkanbau ist der Graseweg abgesperrt, wie schon einmal zu DDR-Zeiten bzw. – siehe oben – wie im Mittelalter.

Quellen/Literatur:

- Lehenbuch von 1608, Hauptbuch der gewöhnlichen Unpflichten, Grund- und Lagerbuch von 1744, Grundbücher 1750 bis 1890, Bürgerbuch 1400 bis 1830, Besitzveränderungen 1753 bis 1784, Adreßbücher, Bauakten Große Klausstraße 2 und 3 sowie Graseweg 1 im Stadtarchiv

- Schönermark, Gustav: Beschreibende Darstellung…, Stadt Halle…, 1886, S. 214f; Hertzberg, Gustav: Geschichte der Stadt Halle…, 1889 – 1893, 2. Band, S. 374; Sauerlandt, Max: Halle a.S., 1. Aufl.,1913, S. 141f (zu Christian Knittel)

- Olearius, Joh.Gottfried: Halygraphia…, 1679, S. 229

- Dreyhaupt, Joh. Chr.: Pagus Neletici…, 1. Band, 2. Aufl.,1755, S. 941

- Bierbach, Arthur: Urkundenbuch der Stadt Halle, Teil 1 bzw. 2, 1930, 1939

- Schultze-Galléra, Siegmar: Topographie…, 1. Band, 1920

- Paul, Maurizio: Archäologische Ausgrabungen in der Altstadt von Halle, in: Hallesche Blätter 1, herausgeg. vom Kulturbund der DDR, o. J. (1989) und Ausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte 1987

- Vom Schlamm zum Händelviertel, 2000